Warum ein Servicelevel im Call Center von 80/20 für Deinen Kundenservice wahrscheinlich falsch ist.

Inhalt dieses Beitrags:
Was versteht man unter Servicelevel? Beispiele aus einer Arztpraxis
Eine Freiburger Urologie-Praxis macht das Warten am Telefon mit einem selbst geschriebenen Song zum Vergnügen. Doch meist quält sie mich, die Warteschleife. Der Nacken krampft, die Schulter schmerzt beim Versuch, das Telefon zu halten und zugleich etwas anderes zu machen. Ich verfluche jede Sekunde, in der mir eine freundliche Dame „Bitte warten Sie“ ins Ohr säuselt. Vor Langeweile frage ich mich, was der Servicelevel dieser Firma ist. 80/20, wie bei vielen? Dann bin ich vermutlich die fünfte Anruferin. Pech gehabt.
Der Servicelevel ist die meist verwendete Kennzahl im telefonischen Kundenservice. Service Level Agreements sind Bestandteil der Verträge für Call Center, die im Auftrag anderer Unternehmen arbeiten. Ein Servicelevel von 80/20 besagt, dass 80% der Anrufe innerhalb von 20 Sekunden angenommen werden.* Das heißt, dass jeder fünfte Kunde länger als 20 Sekunden wartet. Das entspricht 4-5 mal Klingeln des Telefons. Mehr als 20 Sekunden kann alles heißen: Von 21 Sekunden bis zu 45 Minuten, wie mir mal ein Bekannter berichtete. Auch, dass der Anrufer komplett aus der Warteschleife fliegt oder selber entnervt auflegt.
Wie berechnet man das Servicelevel?
Firma A hat das Servicelevel Ziel 80/20. Am Nachmittag wird es für eine Stunde hektisch und manche Anrufer müssen sich gedulden – bis zu 10 Minuten lang. Einige Kunden legen auf, ohne den Kundenservice erreicht zu haben. Der Servicelevel ist am Abend 81% – das Ziel ist geschafft.
Firma B hat das gleiche Ziel. Es ist den gesamten Tag über viel zu tun und manche Anrufer müssen ein wenig länger als 20 Sekunden warten. Die Beschäftigten schaffen es, die meisten Gespräche innerhalb von 30 Sekunden anzunehmen. Im Durchschnitt war der Servicelevel 79% – das Ziel ist verfehlt.
Ein hohes Servicelevel im Contact Center wird mit einer guten Erreichbarkeit gleichgesetzt. Doch stimmt das?
Bei welcher Firma sind die Kunden zufriedener? Ist es schlimmer, viele Anrufer ein paar Sekunden länger warten zu lassen, oder wenige Kunden eine gefühlte Ewigkeit? Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Der Servicelevel sagt, Szenario B ist schlechter.
Der Servicelevel hat sich als die wichtigste Kennzahl für Call Center im telefonischen Kundenservice durchgesetzt. 80/20 gilt seit einer 30 Jahre alten Studie von AT&T weithin als Industrie-Standard. AT&T hatte damals festgestellt, dass viele Anrufer nach 20 Sekunden auflegten. Doch gilt das auch für Ihr Unternehmen? Und erwarten alle Ihre Kunden das Gleiche?
Im Kano-Modell gilt die Erreichbarkeit als Basismerkmal für guten Service. Kunden setzen voraus, dass sie eine Firma unkompliziert erreichen. Sie ärgern sich, wenn das nicht so ist. In manchen Situationen warten sie auch mal länger, weil ein Anliegen ihnen besonders am Herzen liegt. Doch niemand ist davon begeistert. Nicht einmal jene, die den Urologen-Song bis zum Ende hören können. Wenn es nach den Kunden ginge, dann wünschen sie sich ein Servicelevel von 100/10: Alle Anrufe werden nach 2-3 mal Klingeln beantwortet. Doch das bringt hohe Personalkosten mit sich. Wenn die Beschäftigten ausschließlich am Telefon im Einsatz sind, dann sinkt zugleich die Auslastung in Phasen mit wenig Telefonaten. Du kannst es Dir also vermutlich nicht leisten, so viele Mitarbeiter einzustellen, bis Du zu jeder Zeit ein Servicelevel von mindestens 95/10 erreichst.
Das richtige Servicelevel im Callcenter berechnen
1. Analysiere die Call Abandonment Rate:
Nach welcher Zeit steigt sie an? Typischerweise gibt es einen Peak gleich zu Beginn, wenn eine Bandansage startet, weil manche Anrufer sofort auflegen. Anschließend harren viele Kunden bis zum Ende der hoffentlich kurzen Ansage aus und treffen im Menü ihre Auswahl. Wenn sie anschließend nicht auf der Stelle bedient werden, dann legen wieder manche Anrufer auf. Ab wann steigt Deine Zahl? Das ist die entscheidende Zeit für das Servicelevel. Statt x/20 kann das Ziel also x/15 oder x/30 sein.
2. Bekommst Du viele Anrufe von Kunden, die wegen der Wartezeit auflegen und es wenig später wieder versuchen?
Dann ist Dein Servicelevel zu niedrig. Zugleich wird Dein Servicelevel durch diese wiederholten erfolglosen Anrufe noch schlechter. Das ist ein Teufelskreis. Manche Kunden machen es wie ich: Wenn ich für längere Zeit in der Warteschleife lande, dann lege ich auf, um gleich wieder anzurufen. Bei einer entsprechend eingerichteten Telefonanlage bekommt mein Anruf höhere Priorität. Ich rutsche also in der Warteschlange nach vorne.
3. Aus welchen Gründen rufen Kunden Dich an?
Suchen sie eine Antwort auf eine einfache Frage? Dann warten sie ungern lange am Telefon und die Call Abandonment Rate wird früh steigen. Benötigen sie Hilfe bei einem komplizierten Anliegen? Dann gedulden sie sich eher, bis ein Experte zur Verfügung steht. Ist es für sie ausgesprochen wichtig, dass sie ein Problem lösen? Auch dann warten sie länger und das Servicelevel darf etwas niedriger sein.
4. Welche Erfahrungen machen die Kunden in Ihrer Branche und wie prägt das ihre Erwartungen?
Müssen sie oft warten – wie bei Fluglinien? Dann kann das Servicelevel Ziel x/30 oder sogar noch länger sein. Es sei denn, Deine Firma möchte mit Service punkten. In der Biotechnologie-Branche, die ich seit vielen Jahren gut kenne, akzeptieren die Kunden keine Wartezeiten. Dort ist ein Servicelevel von mindestens 95/20 normal.
5. Können die Kunden Dich per E-Mail, Social Media oder Live Chat erreichen?
Dann gedulden sie sich am Telefon ungern. Zugleich akzeptieren sie eher, dass sie zu Spitzenzeiten nicht durchkommen, denn sie können ja ausweichen. Das ist der Vorteil der asynchronen Kommunikation: sie gibt den Kunden Kontrolle. Das Servicelevel darf etwas niedriger sein. Wenn das Telefon der einzige Weg ist, auf dem ein Kunde Dich erreichen kann, dann ist ein hohes Servicelevel wichtig.
6. Wie schwankt die Zahl der Anrufe während des Tages, der Woche und der Jahreszeiten?
Bei erheblichen Schwankungen ist es schwieriger, das Servicelevel Ziel zu erreichen. Es sei denn, Du kannst kurzfristig Beschäftigte von anderen Aufgaben abziehen.
7. Kannst und willst Du Kunden priorisieren?
So dass ein VIP oder ein Kunde, der zum wiederholten Mal anruft, schneller bedient wird? Bist DU gar bereit, für verschiedene Kundengruppen abweichende Ziele vorzugeben? Oder widerspricht das Deinem Gerechtigskeitsempfinden?
8. Passe Dein Ziel nicht an, indem Du die Zahl vor dem Strich niedriger setzt.
Alles unter 70/x ist wenig sinnvoll. Denn das hieße, dass Du dein Ziel nur für knapp mehr als die Hälfte der Kunden erreichen möchtest. Sei ehrlich und erhöhe die Zahl nach dem Strich. Statt 60/20 also 80/30 oder 90/40.
9. Sorge für Technik:
Diese unterstützt Dich dabei, die benötigten Daten analysieren zu können. Moderne Call Center Software ist ebenfalls eine große Hilfe.
Technische Lösungen für Servicelevels
Es gibt technische Lösungen, die die Wartezeit für Ihre Kunden erträglicher machen. Wenn Du den Kunden zu Beginn des Telefonats mitteilst, wie lange sie vermutlich warten müssen, gibst Du ihnen Kontrolle zurück. Sie fühlen sich weniger ausgeliefert. Es ist auch möglich, einen Rückrufservice anzubieten. So dass sie bis zum Gespräch etwas anderes machen können – ohne steifen Nacken vom Telefonhörer.
Die Checklist für besseren Kundenservice bietet Dir übrigens ganz praktische Tipps, was Du noch so für die Qualität des Services in Deinem Unternehmen tun kannst!
* Dabei ist offen, ob die Anrufer, die während der Wartezeit aufgelegt haben (Abandoned Calls) mitgezählt werden, oder nicht. Ebenso mit denen, die auflegen, ohne eine Auswahl im Menü zu treffen (ebenfalls Abandoned Calls, aber vor dem Routing). Ich kenne Berechnungen, die diese Anrufe in die Gesamtzahl einrechnen – oder eben nicht. Auch ist offen, ob die gemessene Zeit mit der Bandansage und dem Telefonmenü beginnt, oder erst, nachdem ein Kunde im Menü seine Wahl getroffen hat.
Fazit
Das Servicelevel ist wichtig, ohne Frage. Wird es aber zu sehr betont, kann das unerwünschte Nebenwirkungen haben. Versuche nicht, das Servicelevel mit Appellen an die Beschäftigten zu verbessern, ohne an den Prozessen oder der Personaldecke etwas zu ändern. Denn dann fühlen die Mitarbeiter sich genötigt, Gespräche kurz zu halten, um verfügbar zu sein. Darunter leidet die Qualität. Für vorausschauenden Service, der einen Schritt weiter denkt, bleibt keine Zeit. Unter Druck kommt der Gedanke auf „Die Kunden können ja wieder anrufen, wenn sie noch mehr Fragen haben“. Deshalb ist es unerlässlich, dass Du auch die Erstlösungsrate im Auge behältst. Die darf nicht sinken, wenn das Servicelevel steigt.
Auch fühlen sich die Beschäftigten unter Druck genötigt, die Nachbereitungszeit zu kürzen. Die Daten werden hektisch ins CRM- und ERP-System eingegeben. Dadurch sinkt die Datenqualität. Das schafft neue Probleme, durch die die Arbeit ineffektiver und langsamer wird.
Sei auch vorsichtig damit, dass jene Anrufer, die über die Servicelevel Grenze geraten sind, eine niedrigere Priorität bekommen und noch länger warten müssen. Nur um ein anderes Gespräch innerhalb der vorgegebenen Zeit annehmen können. Denn so erreichst Du zwar das Servicelevel Ziel, aber Du bereitest einigen Anrufern eine besonders miserable Erfahrung.